Von Peter Pauschal
„An deinem 6.Geburtstag, lieber Sohn, darfst du selbstverständlich bestimmen, was wir als Familie machen – es ist schließlich ein Sonntag, wir haben alle Zeit. Du alleine entscheidest. Das ist klar. Im Übrigen, mein lieber noch fünfjähriger Sohn, ist zu erwähnen, dass dieses Berliner Hallenfußballturnier zufällig genau an diesem Tage stattfinden wird. Natürlich möchte ich dich in deiner Entscheidungshoheit keineswegs beeinflussen, denn es ist schließlich dein Geburtstag, doch hinzugefügt werden muss, dass TeBe mitmischen wird bei diesem Turnier und es wird – ganz im Gegensatz zum letzten Jahr, du wirst dich, mein Sohn, selbstverständlich erinnern – keinesfalls in dieser gammligen Sporthalle im Westen der Stadt ausgetragen, sondern im schnöseligen Osten, wo die Sporthallen alle aussehen wie in New York. In der Halle, mein Kind, wird Kunstrasen liegen – das wird schon so richtig geil sein, aber hey – du hast die Wahl. Wir können ja auch mal wieder in den Zoo. Andererseits sind diese ganzen Tapire und Zebras ja irgendwie immer im Zoo, während dieses Hallenfußballturnier… in der starken Halle mit Kunstrasen… und TeBe… also das – liebes Kind – findet tatsächlich nur einmal statt. Und zwar an deinem Geburtstag.“
Dies sprach der Vater durchaus weit ausholend in die kugelrunden Augen des Kindes. Nun der finale Akt der geschickten Gesprächstaktik vor versammelter Familie: „Mein Sohn, möchtest Du an deinem 6.Geburtstag mit uns allen in den Zoo gehen?“ – bedeutungsschwer blickte der Vater in Richtung Familienrest und sah seinem bald Sechsjährigem danach tief in die Augen. Dieser war entsetzt. Was bitteschön soll er bei den Tapiren und Zebras – die sind doch immer da. Deshalb sprach der Sohn: „Ich will zum Berliner Hallenfußballturnier nach New York.“
Und so kam es, dass an jenem 25. Januar die vierköpfige Familie in der U2 saß. Das Turnier versprach recht lang zu werden, entsprechend dick war deshalb das Buch der an Fußball gänzlich desinteressierten Tochter. Es hieß „Momo“ und war ungefähr so dick, wie der Stiernacken derjenigen Person, die mit uns am U-Bahnhof Eberswalder Straße den Zug verließ. Der Stiernacken hatte auch eine Art Freund dabei.
Diese beiden Herren hatten nun angesichts der vierköpfigen Familie recht viel zu überlegen: Die Tochter trug einen lilafarbenen Mantel. Beim Sohn blitzte ein lilafarbenes Trikot unter der Jacke hervor. Hinzu kam, dass die Familie allem Anschein nach auf dem Weg zum Fußball war, andererseits konnte das aber auch nicht sein, denn der Vater hatte gar keinen Stiernacken. Was war das? Doch nicht etwa diese Lappen von TeBäh?
Dies denkend und uns strammen Schrittes überholend, zückte der Stiernacken für uns alle recht überraschend mitten in der Cantianstraße einen Rauchstab und brachte diesen mit einem Feuerzeug in eine dem Stiernacken sinnvoll erscheinende Verbindung. Es rauchte. Und erhobenen Armes lief er mit seiner Fackel auf die Max-Schmeling-Halle zu. Das New-York-Bild nahm Formen an.
Hinter der stiernackigen Freiheitsstatue lief die vierköpfige Familie, mittlerweile hustend.
„Was ist das?“, würgte das Geburtstagskind.
„Rauch“, antwortete der Vater. Gut, wenn man Eltern dabei hat, die einem die komplexe Welt immer erklären können.
„Vielleicht ist das eine Zigarette.“, vermutete da die achtjährige Schwester.
„Nein. Das ist so Rauchbombenrauch. Und das sind Unioner! Das ist Union-Rauch“ Der Vater sah die Chance gekommen, an der Frühkonditionierung der Kinder zu arbeiten. Bewiesen und gezeigt werden muss, dass die Unioner böse sind. In der schlichten Welt der Kinder muss hier pauschalisiert werden. TeBe ist gut. Nordsachsen ist schlecht. Es gibt keine Ausnahmen. Und dieser Rauch, der die Kinder husten machte, war Union-Rauch.
Sofort hustete der Sohn heftiger – Union-Rauch findet er schlimm. TeBe-Rauch ist dagegen lustig und großartig. Qualmende lila Rauchtöpfe im Mommsenstadion, wie hat er sich mit Papa da gefreut. Wie schön und wohlriechend das war. Aber dieser Rauch hier? Der ist in erster Linie gesundheitsschädlich und schlecht für den Sportstandort Berlin. Da kann man das mit Olympia ja gleich vergessen.
In der Halle war es dann tatsächlich großartig. Kunstrasen. Videoleinwand. Image-Filme von Weltclubs (Viktoria 89), die so emotional und inspirierend wie diese kleinen Filmchen beim Eurovision Song Contest waren. Die Angst, dass jeder Teilnehmer ein solches Filmchen dabei hatte, wuchs, war dann aber unbegründet.
Die Hallensprecher waren zu zweit und recht professionell. Der eine spricht sonst in das Mikrofon vom Berliner AK und der andere in das vom besagten Weltclub Viktoria 89. Beide Vereine gelten in der Stadionsprecher-Szene schon als ziemlich schwere Brocken. Da muss man einfach Profi sein. Und so moderierten die beiden sich souverän durch das Turnier:
„Also, wir haben noch mal nachjesehn. Die Spiela dürfen natürlisch nur in der gegnerischen Hälfte Tore schießen.“
„Nee. Ick gloob, von üwerall.“
„Escht?“
„Ja“
„Na denn wüick ma sagen: Feua Frei!“
„Jenau.“
Den Kampfschrei „Feuer frei“ leicht kontrastierend, wurde jedoch im selben Atemzug eine Verzögerung verkündet: „Wir müssen hier die Namen noch eintragen. Wir fangen später an.“, hieß es feixend vom Hallensprecher. Derweil beschäftigte sich auch die Gattin mit den Namen der Konkurrenz. Sie blätterte im Informationsheftchen und freute sich plötzlich. „Bei Hürtürkel spielen nur Türken und ein Herr Hindenburg.“, wusste sie glucksend mitzuteilen. Jedoch handelte es sich laut Informationsheftchen nicht um Paul, sondern um Dave Hindenburg. Trotzdem komisch – übrigens auch der Vorname. Dave. Meine Güte. Dave Hindenburg… Das klingt ja wie „Brigitte Young Miss“.
Endlich war es soweit. Die Tochter hatte Momo schon fast ausgelesen, als die Tennis Borussen den Kunstrasen betraten. Plötzlich kam Leben in den Fanblock. Luftballonherzen, manche weiß, manche lila, wurden hochgehalten und hochgeworfen. Das war der Moment, wo auch die Tochter den Sinn von Fußballspielen verstand. Eben noch Michael-Ende lesend, hüpfte sie nun wie ein fünfzehnjähriger Traditionsclub-Allesfahrer und warf Ballons.
Im Block gegenüber stand der Stiernacken mit seinem Freund und weiteren Herren und Damen aus Wuhlistan. Auch sie strengten sich mächtig an, auf sich aufmerksam zu machen und was hätten sie in diesem Moment für Luftballons gegeben? So blieb ihnen nur, rhythmisch mit den Armen zu rudern und Dinge zu rufen, die niemand hörte, weil sich die ganze Halle zuraunte, wie schön die lila-weißen Luftballons doch sind.
Viele Luftballons schwebten zu Boden und lagen fortan vor dem TeBe-Fanblock. Das war natürlich keinesfalls Zufall, sondern Teil eines ziemlich klugen Plans, denn wenn sich 2000 Menschen an einem Ort befinden, an dem gerade ein Fußballspiel gespielt wird, das zum Beispiel den Namen VSG Altglienicke gegen Erna Zehlendorf trägt und in dem es darum geht, wer von den beiden Mannschaften Vorletzter (Erna Zehlendorf) und Letzter (Altglienicke) der Gruppe A werden würde, wenn sich also diese 2000 Menschen furchtbar langweilen, in unmittelbarer Nähe aber hunderte hochwertige lila-weiße Luftballons Spiel und Spaß versprechen, dann ist es keinem Menschen zu verdenken, wenn er mal kurz unter den TeBe-Fanblock rennt und dort ein paar Ballons stibitzt um fortan mit ihnen zu spielen.
Und so sah man später im neutralen Zuschauerbereich einige Kinder mit den TeBe-Ballons herumlaufen und hier studieren wir noch einmal den Beginn dieses klugen Aufsatzes, in dem es unter anderem um Konditionierung, sprich: Manipulation unfertiger Menschenhirne ging.
So wie die eigenen Kinder auf dem Weg in die Halle also lernten, wie überaus unangenehm die Unioner waren, so begann es in den Herzen der neutralen Kinder in der Max-Schmeling-Halle mitten in der furchtbaren Realität des VSG Altglienikendorf 03 plötzlich lila-weiß zu lodern. Glücklich wedelten sie mit ihren neu erworbenen Habseligkeiten, während Altglienicke auf dem Kunstrasen gerade einen Ball verstolperte.
Und sind wir doch mal ehrlich: Wie findet man denn seinen Verein? Neben der Liebe zu TeBe weiß unsere Familie drei Konditionierungsgeschichten zu erzählen, die allesamt sehr simpel, sehr folgenreich und absolut repräsentativ sein dürften. Der Vater mag den VfL Bochum, weil er als Elfjähriger den Fanbus der Bochumer bei einem ihrer zahlreichen DFB-Pokalfinals gesehen hat. Er stand direkt vor ihm und es war Liebe auf den ersten Blick, als er sah, wie die blau-weißen Fahnen und Menschen da aus dem Bus hingen. Als Stunden später Lajos Détári Bochum zum Vizepokalsieger schoss, war es leider schon zu spät. Die Konditionierung war bereits abgeschlossen.
Die Mutter dagegen gewann vor Jahrzehnten beim Entenangeln auf dem Münsteraner Weihnachtsmarkt irgendeinen Mittelgewinn. Ein grimmiger Mensch befahl dem kleinen Mädchen, sich möglichst rasch für einen Aufkleber zu entscheiden. Es handelte sich um die Aufkleber dreier Bundesligisten. Das Mädchen wählte in seiner Überforderung den von Schalke 04 und ist alleine deshalb bis heute den Gelsenkirchenern verfallen.
Unser Sohn wurde da schon gezielter infiltriert: Eine ehemalige Nachbarin sprach in die Augen unseres Kindes, diesen lustigen Knautschefußball brauche sie nicht, sie würde ihm den Ball nun einfach schenken und dieses Symbol da auf dem Ball, das solle das Kind einfach nicht so recht beachten, das ist bloß das Wappen von Hannover 96. Sie lachte böse, ging wieder nach nebenan und hinterließ einen glühenden Freund von Hannover 96, dessen seltsame Sympathie noch immer diesem scheußlichen Verein gilt.
Dieser Exkurs sei gestattet, denn er hat eventuell sehr viel zu tun mit den Kindern, die plötzlich munter und glücklich mit einem Ballon links und einem Ballon rechts in der Hand durch die Max-Schmeling-Halle rannten, während die fußballerische Darbietung von Altglienicke und Zehlendorf so langsam ins Absurde kippte.
Es muss ernsthaft darüber nachgedacht werden, sämtliche Kitas Berlins mit TeBe-Aufklebern, -Ballons und –Bällen auszustatten. Man braucht dann zwar einen langen Atem, aber schon nach ein paar Jahren werden die Kita-Kinder groß sein, vielleicht sogar Stiernacken haben, und dann werden sie ins Mommsenstadion gehen und sie alle werden sich dort so erklären: „Du, das war irgendwie ganz doof. In der Kita habe ich mal so einen Aufkleber bekommen… ja… und jetzt bin ich halt hier.“
Aber was ich eigentlich sagen wollte: Wir wurden Dritter. Bei diesem Turnier da. In der Schmeling-Halle.